Fälle des Monats
Fall des Monats "September 2023": Verwerfen eines Blutproduktes
Fall-Nummer
253880
Zuständiges Fachgebiet
Anästhesiologie
Wo ist das Ereignis passiert?
anderer Ort: Intensivstation
In welchem Bereich ist Ereignis aufgetreten:
ITS / IMC
Tag des berichteten Ereignisses:
Wochentag
Welche Versorgungsart:
Routinebetrieb
ASA Klassifizierung::
ASA III
Patientenzustand:
wird nicht beschrieben
Wichtige Begleitumstände:
Ein Blutprodukt wird angefordert, zur Verabreichung vorbereitet und dann doch nicht verabreicht. Blutprodukt (FFP) musste verworfen werden.
Was ist passiert?
Lässt sich nicht eindeutig klären.
Was war besonders gut?
Der Fall wurde gemeldet und die ärztlichen Mitarbeiter erneut zur bedachten Bestellung von Blutprodukten angehalten.
Was war besonders ungünstig?
Das Produkt musste verworfen werden - Knappheit der Blutprodukte - kein ressourcenschonender Umgang.
Wo sehen Sie Gründe für dieses Ereigniss?
Verbesserte Absprachen, eindeutige Indikationsstellung und sehr zeitnahe Vorbereitung des Produktes
Wie häufig tritt dieses Ereignis ungefähr auf?
erstmalig
Wer berichtet?
Pflege-, Praxispersonal
Feedback des CIRS-Teams / Fachkommentar
Kommentar:
Autor: Interdisziplinäre Arbeitsgemeinschaft für klinische Hämotherapie (IAKH) in Vertretung des Berufsverbandes Deutscher Anästhesistinnen und Anästhesisten (BDA) und der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie & Intensivmedizin (DGAI)
Problemanalyse
Der Einsatz eines Blutprodukts ist eine Therapie, die besondere Anforderungen an die Herstellung, Lagerung, Vorbereitung der Verabreichung (hier Auftauen und Verabreichung innerhalb einer kurzen Zeitspanne), Kenntnis der Indikationsstellung und Risiken, Erfahrung mit der Verabreichung und Dokumentation sowie die Beherrschung von auftretenden Transfusionsreaktionen stellt. Die Richtlinie Hämotherapie [1] Kap. 6.4.1.3.1 schreibt vor, dass „jeder Blutprodukte anwendende Arzt ... die dafür erforderlichen Kenntnisse und ausreichende Erfahrung besitzen sowie von einem Transfusionsbeauftragten in die einrichtungsspezifischen Abläufe und Organisationsstrukturen dokumentiert eingewiesen...” sein muss.
Herstellervorgaben/-hinweise sowie existierende SOPs zu bestimmten Medizinprodukten sollten stets befolgt/eingehalten werden. Dies sollte allen Mitarbeitern bewusst sein.
In diesem Fall wurde ein Gefrierplasma aufgetaut und bestellt, dann aber nicht verabreicht. Die Ursache und Begleitumstände konnten nicht geklärt werden. Es ist zu vermuten, dass die Indikation nicht dringlich war, die Anforderung nicht fachärztlich supervidiert oder missverständlich übermittelt wurde. Seltenere Ursachen, die kaum vermeidbar sind, wären eine akute Veränderung beim Patienten (unerwarteter Therapieerfolg, verzögertes nicht erwartbares Blutungsende, plötzliches Versterben, etc.), die die gerechtfertigte Transfusion unmöglich macht. Die Dosierung des einzelnen Gefrierplasmas als Gerinnungstherapeutikum für einen Erwachsenen erscheint zu gering für eine leitlinienkonforme Therapie. Wurde die Indikation auf eine POCT-Gerinnungsdiagnostik gestützt, die eine zielgerichtete, zeitnahe und ressourcensparende Therapie ermöglicht [3]? Oder hat die Gerinnungsanalyse aus dem Routine-Labor zu lange gedauert, so dass die Plasma-Bestellung vielleicht „auf Vorrat” getätigt worden war?
Dieses Ereignis sollte in Zukunft vermieden werden, da Blutkonserven im Allgemeinen als potenziell notwendiges Therapeutikum immer öfter nicht verfügbar sein werden, weil diese verfallene Konserve vielleicht einem anderen Patienten das Leben hätte retten können, weil dem Spender ein Aufwand entstanden ist und er den gewissenhaften Einsatz zu Recht erwarten kann. Wie der Meldung zu entnehmen war, wurden die ärztlichen Mitarbeiter zu einem in Zukunft ressourcenschonenden Umgang angehalten. Man würde sich wünschen, dass die genauen Ursachen und Begleitumstände in einer M&M-Konferenz analysiert würden.
Viele der möglichen Fehlerursachen wären durch eine elektronische Anforderung mit Clinical Decision Support [2] vermeidbar. Dort können Berechtigungen und Qualifikationen zur Verordnung von Blutkonserven hinterlegt werden, kann die leitliniengerechte Indikation plausibel geprüft werden, die Verträglichkeit und Dosis in Bezug zur Behandlungssituation des Patienten kontrolliert sowie auf den Verstoß gegen die geltenden Richt-/Querschnittsleitlinienempfehlungen und den Zeitverzug durch den Auftauprozess hingewiesen werden. Aktuell gibt es die Möglichkeit der Fehlervermeidung in Deutschland mittels CDS leider noch nicht: Grundvoraussetzung für eine fundierte klinische Unterstützung wäre die implementierte Schnittstelle in das KIS. Ohne gute Anamnese- und Verlaufsdaten macht ein CDS-System nicht viel Sinn. Die digitale Erfassung von Anamnese und klinischen Verläufen wird in den meisten aktuell benutzten digitalen Systemen lediglich als WORD file eingebunden, das schwer oder gar nicht mit Laborwerten oder computerisierten Einbindungen anderer Bereiche funktioniert. Unseres Wissens gibt es bisher kein marktreifes CDS-System für Hämotherapie aus Deutschland oder eine in deutsche Verhältnisse portierte Version. Fast 10 Jahre nach den Hinweisen von Yazer u.a. stehen nach meinem Wissen keine Systeme zur Verfügung, aber einige Firmen sind in Vorbereitung bzw. haben nicht ausgereifte Systeme im Angebot (z. B. HemoGuide von Fresenius Kabi oder Blood Track von Haemonatics).
Prozessqualität
- SOP/VA und Fortbildung – alle Mitarbeiter: Leitliniengerechte Indikationsstellung, Anwendung und Dosierung von Blutprodukten
- Fortbildung/SOP – Ärzte: POCT-Gerinnungsmanagement, Vorteile und Modalitäten
- Abhalten einer M&M-Konferenz zum Fall
- Meldung an die Transfusionskommission
Strukturqualität
- GF, ÄD, TV, Labor/Blutbankleiter, IT: Einrichtung eines elektronischen Bestellformulars mit den o. a. Optionen
- TV, Transfusionskommission: Einrichtung einer Ausbildungseinheit zum Qualifikationsnachweis der Ärzte hinsichtlich der theoretischen und praktischen Spezialkenntnisse bezüglich Transfusionen
- Leitung Labor/Intensivstation: Einführung POCT-Gerinnungsdiagnostik
Literatur:
- [1] Bundesärztekammer (Hrsg.). Richtlinien zur Gewinnung von Blut und Blutbestandteilen und zur Anwendung von Blutprodukten (Richtlinie Hämotherapie): aufgestellt gemäß §§12a und 18 Transfusionsgesetz von der Bundesärztekammer im Einvernehmen mit dem Paul-Ehrlich-Institut: Gesamtnovelle 2017. Köln: Deutscher Ärzte-Verlag; umschriebene Fortschreibung 2021.
https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/_old-files/downloads/pdf-Ordner/MuE/Richtlinie_Haemothe rapie_E_A_2019.pdf - [2] Jenkins I, Doucet JJ, Clay B, et al. Transfusing Wisely: Clinical Decision Support Improves Blood Transfusion Practices.Jt Comm J Qual Patient Saf. 2017;43(8):389-395. doi:10.1016/j.jcjq.2017.04.003
- [3] Heubner L, Mirus M, Vicent O, et al. Point of care coagulation management in anesthesiology and critical care.Minerva Anestesiol. 2022;88(7-8):615-628. doi:10.23736/S0375-9393.22.16380-7
Häufig verwendete Abkürzungen:
- FFP Gefrierplasma
- GF Geschäftsführer/in
- ITS Intensivstation
- IT Informationstechnik/er
- M&M Konferenz zu Morbidität und Mortalität
- SOP Standard Operating Procedure
- TV Transfusionsverantwortliche/r
- VA Verfahrensanweisung